„Wir schaffen das!“ Dieses euphorische Statement von Bundeskanzlerin Merkel haben sich seit dem Spätsommer 2015 Tausende von engagierten Bundesbürgern buchstäblich zu Herzen genommen. Im Zuge des bislang größten Zulaufs an vor Bürgerkrieg und Terror geflüchteten Menschen haben sie diesen ein Ankommen ermöglicht. Ehrenamtlich und von Herzen. Im Rahmen der staatlich aus dem Boden gestampften Erstaufnahmelager vermittelten sie nicht nur Kleiderausgabe, Nahrungsbeschaffung, Hygieneartikel. Sie sorgten auf unkonventionelle Weise auch auf der emotionalen Ebene dafür, dass diese Menschen sich hier willkommen und sicher fühlen. Denn Deutschland ist sicher.
Am 2. Oktober 2016, über ein Jahr nach der viel bescholtenen „Flüchtlingskrise“, unterschrieben die EU und die afghanische Regierung nach langen Verhandlungen eine Vereinbarung über die “würdevolle, sichere und geordnete” Rückführung afghanischer “irregulärer Migranten” nach Afghanistan, denen “nach Berücksichtigung aller relevanten internationalen Gesetze und gesetzlicher Prozeduren kein internationaler Schutzstatus gewährt werden kann”. Es geht also um abgelehnte Asylbewerber und Flüchtlinge aus Afghanistan.
Vielerorts gebe es dort sichere Regionen, in welche die (nach welchen Kriterien auch immer) abgeschobenen Menschen künftig in Frieden leben könnten, so die Bundesregierung. Allen voran Innenminister de Maizière. Die Realität in Afghanistan ist eine völlig andere.
Auswärtiges Amt: „Vor Reisen nach Afghanistan wird dringend gewarnt“.
Wer sich derzeit mit dem Gedanken trägt, im Rahmen einer Fotoreise die Kulturstätten des Landes am Hindukusch festzuhalten und zu dokumentieren, wird umgehend auf die Webseite des Auswärtigen Amtes verwiesen. Dort gilt höchste Warnstufe für Reisen nach Afghanistan. Konkret: „Wer dennoch reist, muss sich der Gefährdung durch terroristisch oder kriminell motivierte Gewaltakte bewusst sein. Auch bei von professionellen Reiseveranstaltern organisierten Einzel- oder Gruppenreisen besteht unverminderte Gefahr, Opfer einer Gewalttat zu werden. (…) In ganz Afghanistan besteht ein hohes Risiko, Opfer einer Entführung oder eines Gewaltverbrechens zu werden. Landesweit kann es zu Attentaten, Überfällen, Entführungen und anderen Gewaltverbrechen kommen.“ [1]
Ein aktueller Warnhinweis geht den Ausführungen voran: „Am 10.11.2016 hat ein Anschlag auf das deutsche Generalkonsulat in Masar-e Scharif stattgefunden. Das Generalkonsulat ist daher vorübergehend nicht erreichbar.“
Von friedlichen Regionen ist hier nicht die Rede. Als solche galt bislang noch die nördliche Region um Masar-e Scharif. Bis zu dem Anschlag mit Todesopfern. Es wird also erst mal nichts mit der Abenteuerreise zur Blauen Moschee. Wie Georg Restle (WDR) in seinem Kommentar in den Tagesthemen vom 14.12.2016 verlauten ließ, sei „das Land in diesem Jahr noch tiefer im Chaos von Bürgerkrieg und Terrorismus versunken.“ Die Taliban seien „auf dem Vormarsch“. Die Bundeswehr schaffe „es nicht mal mehr, deutsche Einrichtungen vor Anschlägen zu schützen. Selbst in den angeblich sichersten Regionen im Norden des Landes liefern sich Milizen täglich Gefechte mit den Taliban. Zivilisten werden auch dort entführt, gefoltert, ermordet.“ [2]
Im Global Peace Index (GPI) 2016, erstellt vom Institute for Economics and Peace, fungiert Afghanistan unter den zehn am wenigsten friedlichen Länder von insgesamt 163 auf dem vierten Platz nach Syrien, dem Südsudan und dem Irak. Grundlage dieser Messung sind 23 qualitative und quantitative Einzelindikatoren, anhand derer 163 Länder miteinander verglichen werden. Laut IEP messen die Indikatoren unter anderem den „Grad der Sicherheit in der Gesellschaft“, „das Ausmaß von nationalen oder internationalen Konflikten“ und „den Grad der Militarisierung“. [3]
Afghanistan ist also alles andere als sicher. Warum dann diese „Rückführungsvereinbarung“?
Erste Sammelrückführung nach Kabul: Heimkehr oder Todesurteil?
Sie küssen den Heimatboden. Und doch herrscht Bedrückung, Verzweiflung und Unsicherheit. 34 junge Männer bestiegen am späten Abend des 14.12.2016 am Frankfurter Flughafen eine Chartermaschine nach Kabul. Nicht freiwillig. Sie gehören zu den 50 Auserwählten, deren Asylantrag in Deutschland abschlägig beschieden wurde. Einige seien untergetaucht, andere konnten mit Hilfe von Rechtsanwälten einen einstweiligen Stopp des Abschiebungsverfahrens erwirken. Ein Drittel darunter seien Straftäter, so der Innenminister. Und die anderen?
„Stopp Deportation“ lautete eine der Parolen bei den zahlreichen Protestaktionen in deutschen Innenstädten am Vortag. Und da wir in einer Demokratie leben, sorgte der Begriff „Deportation“ in der Politikerriege für Kontroversen. Den Konservativen schmeckte dieses „Unwort“ überhaupt nicht. Es sei schlicht weg der Situation unangemessen, polemisch und übertrieben. Bei einer „Deportation“ handele es sich um eine wahllose Abschiebung von Menschenmassen. Stimmt. Wer der deutschen Geschichte einigermaßen mächtig ist, wird bestätigen, dass in den tausend Jahren zwischen 1933 und 1945 der „Deportation“ zunächst eine „Selektion“ vorausging. Später hat man sich das dann erspart. Und heute?
Die Kriterien sind unklar. Medienberichten zufolge befanden sich unter den abgeschobenen Afghanen ausschließlich Männer. Junge Männer. Ein Großteil davon lebt bereits seit drei und mehr Jahren in Deutschland und hat bislang auf einen Bescheid über ihren Asylantrag gewartet. In dieser Zeit haben sie hier Fuß gefasst, die Sprache erlernt, sich integriert, einen Job gefunden – ob als Aushilfe in einer Bäckerei oder als Kellner. Sie besuchen Integrationskurse und nehmen lokale Angebote der Begegnung mit Mitbürgern wahr, wie z.B. das Café Grenzenlos in Neu-Isenburg. Freundschaften sind entstanden, die Hierarchie zwischen HelferInnen und Flüchtlingen zusehends verschwommen, wenn nicht ganz verschwunden. In ihren Lebensläufen und Bewerbungen schreiben sie, dass sie als Teil der Gesellschaft gern zum Erfolg und Fortschritt Deutschlands beitragen möchten. Und sie schreiben es nicht nur. Sie tun es bereits.
In Afghanistan erwarten sie die Taliban. Für die gelten Menschen, die nicht zur Zusammenarbeit bereit waren und ins Ausland geflüchtet sind, als „Abtrünnige“. Wie die Taliban mit „Abtrünnigen“ verfahren, ist hinreichend bekannt. Der Münchner Merkur berichtet über den 22-jährigen Babur Sedik, der vier Jahre in Deutschland verbracht habe. Wie es jetzt weiter gehe, wisse er nicht. Er stamme aus der noch vergleichsweise sicheren Provinz Kabul. Dennoch denke er erneut an Flucht. „Wenn die Sicherheitslage sich nicht verbessert und ich keine Arbeit finde, habe ich keine andere Wahl – dann muss ich wieder versuchen, zu fliehen. Oder ich muss nach Pakistan oder ein anderes Land gehen.“ [4]
Die Partei Die Linke gibt zu bedenken, die Rückführung von geflüchteten Menschen nach Afghanistan sei die Abschiebung in den sicheren Tod. Die Ärzteorganisation IPPNW indes hält die Maßnahme für unvereinbar mit der Achtung der Menschenrechte. 200.000 geflüchtete Afghanen sollen auf diesem „humanen“ Weg in den nächsten Wochen und Monaten abgeschoben werden. Wenn es nach CSU-Chef Horst Seehofer ginge, am liebsten „im Zweiwochenrhytmus“. Das beschleunigte Asylverfahren macht’s möglich. Wie war das gleich mit der Abgrenzung zwischen „Selektion“ und „Deportation“?
Ja haben wir es denn „geschafft“? Sind wir noch dabei? Und was genau wollten wir eigentlich „schaffen“? Wer hat bislang was „geschafft“? Und hätte ohne die Flüchtlingshilfeorganisationen mit ihren vielen ehrenamtlichen Helfern und Begleitern überhaupt irgendjemand irgendwas „geschafft“? Für letztere bedeutet die jüngste Abschiebungspolitik zwar eine Abwertung ihres unkonventionellen Engagements, der investierten Zeit und Nerven, nicht aber das Todesurteil. Denn Deutschland ist sicher.
Marianne Kestler, 15.12.2016
[1] Quelle: Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (https://www.auswaertigesamt.de/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/AfghanistanSicherheit.html?nn=332636?nnm=332636)
[2] Quelle: Tagesschau.de, Kommentar von Georg Restle (WDR) am 14.12.2017 (http://www.tagesschau.de/inland/kommentar-afghanistan-101.html)
[3] Quelle: Travelbook.de (http://www.travelbook.de/welt/global-peace-index-die-friedlichsten-laender-der-welt781004.html)
[4] Quelle: Merkur.de (https://www.merkur.de/politik/sammelabschiebung-aus-deutschland-abgelehnte-asylbewerberin-kabul-gelandet-zr-7119098.html)